Die Falten der Seele ähneln den Faltungen der Materie

 

Von Faltungen und Übergängen in Sara Lanners PerformanceGUESS WHAT“, bei imagetanz, Wien.

 

 

 

Von Sabina Holzer

 

 

 

Choreografie ist ein komplexer Begriff. Sie soll Handlungen auslösen und eine Bewegungsgrammatik für die Umgebung entstehen lassen. Gleichzeitig macht sie Ausnahmen und Versprechen zum Teil ihrer Regel, weil jeder beteiligte Körper den Strukturen in seiner Differenz begegnet. Eine soziale Choreografie wiederum betrifft nicht nur die Körper einer oder mehrerer Tänzer_innen, sondern lässt einen Handlungsspielraum für Menschen innerhalb und außerhalb des Theaters bzw. Kunstraumes entstehen. Auch die Objekte, die den Raum prägen und gestalten, werden dann Teil dieser Choreografie.

 

 

 

Die Choreografin und Performerin Sara Lanner untersucht den Körper als soziale Choreografie und Skulptur 1 und verschränkt in ihrer neuen Arbeit „Guess What“ konsequent und spielerisch den erweiterten Choreografiebegriff des zeitgenössischen Tanzes, mit dem erweiterten Skulpturbegriff der bildenden Kunst. Körper ist bei ihr ein Ort durch und mit dem einerseits verschiedene Handlungsmuster als Erinnerungen und Projektionen tänzerisch aktiviert werden, andererseits bezieht „Körper“ hier auch den Objektbegriff ein, mittels dessen Räume geschaffen und transformiert werden. Tanz, Gesten und funktionelles Handeln lassen in „Guess What“ - in Zusammenarbeit mit Steffi Parlow (Raumkonzept), Gabriele Cram (dramaturgische Beratung), Michael Wedenig (Sound Design) und Sabina Holzer (Feedback) - einen Raum entstehen, in dem sich die Zuordnungen von individuell und kollektiv, von Objekt und Subjekt permanent verschieben.

 

 

 

 

Parallele Akteur_innen

 

 

Die Stühle der Tribüne im WERK X-Eldorado sind weggeräumt. Die Besucher_innen sind eingeladen im ganzen Raum Platz zu nehmen. Die räumliche Trennung zwischen Besucher_innen und Performer_innen ist aufgehoben. Im ganzen Raum sind Objekte platziert. Es gibt Podeste in unterschiedlichen Höhen - zwischen 20 und 40 cm, eines ist ca. 1,80 m; beige Matten, die teils die Oberflächen der Podeste abdecken; graue und silberne Stoffe liegen gefaltet auf und neben diesen Podestinseln. Auf ihnen lassen sich während der Performance die Menschen nieder. Auch einige kleinere mohnrote Polster gibt es. Am oberen Rand der transformierten Tribüne stehen 50cm hohe Buchstaben eng aneinander gerückt, wodurch sie wie ein seltsam durchbrochener heller Kubus wirken.

 

 

 

Gleich beim Eingang liegt ein Stapel der beigen Matten. Kopf und Hände zwischen die Matten geschmiegt, gezwängt liegt Sara Lanner und singt Variationen von Nationalhymnen. Wir hören eine Stimme, die in verspielter Selbstvergessenheit Melodien flechtet und sie ineinander übergehen lässt. Die Besucher_innen haben Zeit sich umzuschauen und werden eingeladen, den Platz, für den sie sich nun entscheiden, während der Performance zu verändern.

 

 

 

In den kommenden 75 min aktiviert Sara Lanner in unterschiedlichen choreografischen Sequenzen verschiedene Orte innerhalb des Raums und tritt mit deren Umgebungen in Kontakt. Umgebung heißt hier: Ensembles von Objekten und Subjekten - und die Subjekte sind: die Besucher_innen. Lanner nähert sich sensibel und initiiert kurze Dialoge. Diese intim anmutenden Mikro-Situationen sind nur für die direkt Angesprochenen verständlich. Die anderen Zuschauer_innen werden Zeug_innen der Entstehung eines Kontakts. Er gestaltet sich rund um konkrete Fragen: was sieht jemand in dem spiegelnden, quadratisch gefalteten Stoff, den Lanner mit ihren Händen, wie einen Spiegel den Zuschauer_innen darbietet. Oder: würden die angesprochene Person so freundlich sein, diesen Stoff, der entfaltet zu einem großen Tuch von 1,20m x 2m wird, mit jemand anderem zusammenzufalten und ihn (den Stoff) gefaltet wieder woanders im Raum  zu platzieren. Diese Tätigkeit des gemeinsamen Faltens, Entfaltens, Platzierens zieht sich durch die ganze Performance. So entsteht eine Bewegung des Publikums, welches parallel zu Lanner immer wieder in Aktion tritt.

 

 

 

 

Gedächtnis und Identität stellen sich in Frage

 

 

 

Positionsveränderungen und verändernde Sichtweisen bestimmen die Performance auf unterschiedliche Art. Aus Lanner scheinen unterschiedliche Gestalten zu treten, die gestikulierend auf sich selbst und gleichzeitig von sich weg weisen. In Statuen ähnlichen Positionen blitzen Haltungen aus dem klassischen Ballett, die plötzlich, wie durch eine unsichtbare Berührung, eine intime Empfindungswelt öffnen. Akrobatisch, sportliche Elemente aus dem zeitgenössischen Tanz, wie Handstand und Überschlag, werden hier zu Zeit- und Raumsprüngen; stilistische Tanzfloskeln fließen über in eine individuelle Körpersprache, in der die sensorische Wahrnehmung den Körper formt. In all dem geht Lanner in unterschiedliche Nähe und Distanzverhältnisse zu den Zuschauerinnen und entfaltet in ihrem tänzerischen und gestischen Material detailliert unterschiedliche Stimmungen. Diese werden mit unterschiedlichen Songs aufgeladen und von szenischen Skulpturen durchsetzt.

 

 

 

Da gibt es zum Beispiel eine Situation des stimmlosen Sprechens, in der ein verbaler Text auseinander genommen, sich nur mehr in fragmentarischen Silben äußert. Lanner hüllt sich dabei drehend in einen spiegelnden Stoff. Er gleitet ab und bleibt liegen, wird zum Faltenwurf. Oder ein tastendes Nachzeichnen der Konturen von Körpern - der Besucher_innen, Stoffe, oder Podeste. Um dann doch nochmals mit sich selbst in Berührung zu kommen und die Umrisse des eigenen Körpers auf einer spiegelnden Folie mit den Fingern nach zu zeichnen. In einer immer schneller werdenden Bewegung zerknüllt Lanner die spiegelnde Folie, die glatte Oberfläche. Eine Verselbstständigung, die (abgründiges) Chaos aufblitzen lässt.

 

 

 

In einem anderen Moment wird der glänzende Stoff auf die Treppen der Tribüne gebracht und ausgebreitet. Das Publikum wird gebeten Platz zu machen, seinen Ort freizugeben und zu verändern und strömt wie ein Schwarm auf die andere Seite des (Bühnen-) Raums. In dem verdunkelten Raum entsteht ein spiegelnder Fluss über den Lanner sich beugt, als wolle sie ihr zerfließendes Spiegelbild betrachten. Bevor sie den Stoff wieder nimmt und mit ihm, als spiegelnden Umhang, die Treppen hinunter steigt.

 

 

 

Sara Lanner hat in „Guess What“ komplexe Schichtungen konstruiert: sie zeigt und entzieht sich, setzt sich in Beziehung und ist rätselhaft verschlossen; bestimmt den Raum und ladet zum gemeinsamen Gestalten ein - um sich in Folge aus dem Geschehen zurück zu ziehen. Gedächtnis und Identität sind hier keine klar umrissenen Gegebenheiten, sondern komplexe, sich wandelnde und immer wieder in Frage stellende, (kulturelle) Phänomene. Sie bezieht politische Gesten und Medienbilder in ihr Bewegungsmaterial mit ein, ohne sie direkt inhaltlich weiter zu führen. Verkörperung ist hier keine Illustration eines Abbildes, sondern eine sensorische Übersetzung, eine Annäherung und Anerkennung einer Realität, ohne ironische Überhöhung oder moralischen Appell.

 

 

 

In ihren Untersuchungen wie Erinnerung und Projektion sich auf zukünftige Handlungen auswirkten, entfaltet Lanner Übergänge vom „Individuum“ zum „Dividuum“. Einem reflexiven Ich also, das sich über Ähnlichkeiten mit anderen verbindet, verkettet oder auch verstrickt. Geteilt-Sein und Teilbarkeit der Dividualität bezieht sich dabei immer auf ein Vielfaches, nie auf ein Ganzes. In diesem Sinne spiegelt „Guess What“ ein Empfindungsgewebe unserer Zeit mit ihren unterschiedlichen Wirklichkeiten, Medien und Wahrnehmungsmodalitäten. Lanner performt diese Streuung mit einnehmender fein dosierter Direktheit und einer erfrischenden Durchlässigkeit. Sinn entsteht hier über Sinnlichkeit, über Mit-Sein und Teilhabe. In der Herausforderung, sich der Vielfalt von Projektionen zu stellen und sie auszuloten, begegnet Lanner auch (eigenen) Abwesenheiten und lässt eine reflexive, sensible Brüchigkeit entstehen.

 

 

 

Die immer wieder kommende Frage, ob jemand ihr helfen könnte, in dem er_sie den Stoff, die Matten, den Buchstaben von hier nach dort bringt, lässt einen gemeinschaftlichen Raum entstehen, in dem unterschiedliche Akteur_innen sichtbar werden ohne ausgestellt zu sein. Am Ende spinnt sich ein Netz an gemeinsamen Tätigkeiten und Weitergaben soweit, dass Lanner fast unbemerkt den Raum verlassen kann und das Falten, Platzieren und Schlichten ohne sie weitergeht. So wird der feine, humorvolle Ton der Selbstrelativierung bis zur letzten Konsequenz durchgespielt.

 

 

 

Welche Wichtigkeit hat dieses „Selbst“? Gefaltet, entfaltet zwischen Innen und Außen? Zwischen Dir und mir und den Anderen? Wie wichtig das Deine, das Meine? Rate mal! Was meinst Du? Und wie geht es Dir dabei?

 

 

 

1 Programmheft „Guess What“, Sara Lanner

 

 

About Sabina Holzer: http://www.cattravelsnotalone.at/